Georgien
- Jessi
- 14. Sept.
- 7 Min. Lesezeit

Über die Bedeutung des Weines als „Kleber“ der Gesellschaft, über eine identitätsstiftende Tafelkultur und den fehlenden Buchstaben „F“… –
Als Gott das Land unserer Erde unter den Völkern zu verteilen begann, standen diese pünktlich in der Schlange und nahmen an, was Gott ihnen zuteilte. Nur die Georgier fehlten. Sie waren am Feiern, stiessen mit georgischem Wein aufeinander, auf ihre Familien, die Gesundheit, das Leben und natürlich auf ihren Schöpfer an. Viel zu spät tauchten sie daraufhin bei Gott auf. Dieser sagte: “Liebe Georgier, es tut mir leid, aber ihr seid zu spät. Ich habe bereits all das Land vergeben.” Die Georgier erklärten, warum sie zu spät erschienen seien: “Wir haben das gefeiert, was du geschaffen hast. Wir haben auf uns, unsere Familien, auf die Gastfreundschaft und Gesundheit, auf das Leben und natürlich auf dich, unseren Schöpfer, angestossen”.
Gott war gerührt ob ihrer Aufrichtigkeit und meinte: “Ich habe noch ein kleines Stück Land übrig. Das schönste überhaupt. Eigentlich habe ich das für mich reserviert. Aber ich schenke es euch.”
So kamen die Georgier zu ihrem kleinen, aber wunderschönen Land und sind bis heute unendlich stolz darauf.
So besagt es eine berühmte georgische Legende.
Bei der Reise durch Georgien sind wir versucht dieser Legende Glauben zu schenken. In vielerlei Hinsicht. Nicht nur ist es tatsächlich eine traumhaft schöne, üppige und vielseitige Landschaft, auch die Kultur des gemeinsamen Feierns wird ausgiebig zelebriert. Dies erfahren wir bereits am ersten Abend in Georgien am eigenen Leibe, als unweit unseres Übernachtungsplätzchens eine Geburtstagsfeier “los brach”. Wir wurden eingeladen uns dazu zu gesellen und setzten uns an einen mit georgischen Köstlichkeiten überladenen Holztisch. Schnell bemerkten wir, dass trotz der ausgelassenen Stimmung das gemeinsame Trinken festen Regeln folgt. Niemand trinkt einfach so. Zuerst wird ein Toast ausgesprochen: Auf das Geburtstagskind (21 Jahre), die Gastgeber, das Leben, die Familien, Freunde, auf die Gemeinschaft, die Gesundheit, die Zukunft - und ganz wichtig - auf die Verstorbenen. Diese Toasts sind keines Falls nur Floskeln, sondern werden spezifisch auf die versammelten Mitmenschen und die Situation zugeschnitten und nehmen teilweise mehrere Minuten in Anspruch. Manchmal wird auch gesungen, zitiert oder gedichtet. Danach stösst der Redner mit seinen Zuhörern an und trinkt vom Wein. Die Personen, mit denen angestossen wurde, dürfen dann ebenfalls trinken. Dabei ist jedem selber überlassen, ob er nur nippt oder den ganzen Becher in einem Zug runter stürzt. Jeder neu dazu gekommene Gast trägt von sich aus eine Rede auf das Geburtstagskind vor, welche aufmerksam von den Umstehenden verfolgt wird. Diese Tradition des Festes wird „Supra“ genannt und ist tief in der georgischen Kultur verwurzelt. Sie kommt bei verschiedenen gesellschaftlichen Anlässen wie Hochzeiten, Taufen, Geburtstagen, Erntefesten oder beim Empfang von Gästen zum Tragen. Normalerweise führt der „Tamada“ durch den Abend. Die Rolle des Tamada wird vorab bestimmt und ist nach alter Tradition ein Mann mit Lebenserfahrung. Die Aufgabe des Tamada ist es, durch den Abend zu führen, die Trinksprüche auszugeben, darauf zu achten, dass jede*r Einzelne sich in die Feierlichkeiten miteingebunden und sich wohl fühlt. Ein guter Tamada zeichnet sich durch Eloquenz, Humor, Kreativität, Originalität, Scharfsinn und Tiefgründigkeit aus. Zudem muss er jede Menge Wein vertragen und dabei klar im Kopf bleiben können!
Marika Lapauri-Burk: „Die Georgier pflegen mit ihrer ritualisierten Tafelrunde einen Ort der Kommunikation, an dem alle Themen zur Sprache kommen können. Dieser imaginäre Raum, hervorgebracht durch Redekunst und Gesang, trägt ein Urbild in sich: Eine Suche nach Harmonie, an der - zumindest vorgestellt - die ganze Menschheit teilhaben könnte.“
Diese Tradition der georgischen Tafelkultur weist Parallelen zu einer psychotherapeutischen Gruppentherapie auf. Es scheint fast unmöglichen zu sein, kein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln, wenn die Menschen von klein auf erleben, wie ihre Talente, Persönlichkeitsmerkmale und Eigenschaften betont, gelobt, ja regelrecht gefeiert werden - und die Georgier*innen feiern oft! Wenn nicht unbedingt auf die Leber, so aber mit Sicherheit auf die Psyche muss diese Tradition eine reinigende Wirkung haben. Folglich müssten Psychologen in Georgien einen schweren Stand, Gastroenterologen hingegen alle Hände voll zu tun haben.
Genaue Belege dafür, wann sich diese Tradition entwickelt hat, gibt es nicht, fest steht aber, dass sie bereits mehrere 100 Jahre besteht.
Im 15. Jh. schreibt Giorgio Interiano aus Genua über die Tscherkessen aus dem Nordkaukasus: „Sie trinken andauernd und im Namen Gottes und der Allerheiligen auf die Gesundheit Gottes, auf die Erinnerung an Freunde und auf die Erinnerung an alle wichtigen und bemerkenswerten Siege. Sie trinken mit grosser Festlichkeit und Respekt als ob es einen Gottesdienst zu vollziehen gilt. Sie sind ohne Kopfbedeckung als ein Zeichen der höchsten Demut.“
Georgien gilt als Wiege des Weines und dieser hat in Georgien einen hohen Status. Er wird nicht einfach nur als Genussmittel wahrgenommen, sondern viel mehr als eine Art verbindendes Element, das die Gesellschaft zusammenhält und in ihrer Gemeinschaft stärkt. Dass die Georgier über all die Jahrhunderte, wo sie Invasoren, Belagerungen und Kriege aushalten und überstehen mussten, dennoch ihre Identität, Standhaftigkeit und Kultur bewahren konnten, wird oft auf die Wirkung der „Supra“ zurückgeführt.
Trotz diesem gemeinschaftsfördernden Verhalten, müssen die Georgier und Georgierinnen nicht nur ein Volk der Worte, sonder auch der fliegenden Fäuste gewesen sein. Unzählige Wehrtürme im Norden Georgiens sind Zeitzeugen früherer Zwiste zwischen Dörfern oder Sippen. Sippen oder Dörfer, die im Streit miteinander lagen, zogen sich zum Schutz in ihre Wehrtürme zurück. Die Eingänge liegen mehrere Meter über dem Boden und waren über eine Leiter erreichbar, welche hochgezogen wurde, sobald das letzte Familienmitglied im Turm war. Auch wenn Gefahr durch Lawinen drohte, zogen sich die Dorfbewohner in die Türme zurück. Die 30 Wehrtürme im Dorf “Uschguli” auf rund 2200 m.ü.M. gehören zum UNESCO-Weltkulturerbe und stammen aus dem 10. Jh. Anfang 20. Jh. standen noch rund 100 dieser Türme in dem kleinen Dorf. Diese Provinz Georgiens ist aber sehr arm und es sind kaum finanzielle Mittel vorhanden die Wehrtürme zu restaurieren und instandzuhalten. So zerfallen viele nach und nach. Hoffnung wird in den Tourismus gesetzt, welcher Georgien für sich zu entdecken beginnt und in Uschguli schon deutlich spürbar ist. Die Einahmen aus dem Tourismus könnten vielleicht die Erhaltung oder Umnutzung der Wehrürme ermöglichen.
In ihrer eigentlichen Funktion haben die Wehrtürme jedoch ausgedient. Ein Streit wird heuzutage auf dem Parkplatz vor dem Spar von Angesicht zu Angesicht ausgetragen. Zumindest haben wir eine Szene beobachtet, aus der wir das geschlossen haben. Vielleicht waren wir aber Zeugen einer im Entstehen begriffen Tradition… So sehr wie die Georgier in ihren unzähligen Traditionen verhaftet sind, ist dies nicht so weit her geholt. Auf jedenfall kamen bei besagtem Ereignis zur selben Zeit aus entgegengesetzten Richtungen zwei Autos angeschossen und parkten vor dem Spar, als wir gerade unsere Einkäufe tätigen wollten. Aus jedem Auto stieg ein erzürnter Mann und ging schnellen Schrittes auf den jeweils anderen zu. Dann begannen sie Stirn an Stirn und Nasenrücken an Nasenrücken einander anzubrüllen. Jeder hatte eine kleine Gefolgschaft, bestehend aus zwei, drei weiteren Männern dabei, welche sich um die beiden Streithähne scharten und dafür sorgten, dass es zu keinen Handgreiflichkeiten kam. Dass dies kein aussergewöhnliches Ereignis zu sein schien, zeigte die Reaktion der beiden Verkäuferinnen im Spar, die einen eher genervten als neugierigen Eindruck machten und die Ladentür schlossen, um den Lärm auszusperren. Als wir unsere Einkäufe erledigt hatten, waren die beiden nach wie vor dabei einander anzubrüllen. Ein Ende war nicht in Sicht. Die andern Männer hatten sich mittlerweile abseits zusammen gestellt, rauchten und plauderten zusammen, mit einem Auge die beiden Zankenden beobachtend. Hin und wieder machte sich ein Schmunzeln auf ihren Gesichtern bemerkbar. Wir verfolgten das Spektakel während wir die Einkäufe verstauten, liessen dann aber die Streithähne sein und fuhren weiter.
Über den Inhalt des Streites können wir nur spekulieren. Unser leider nur sehr kurzer Aufenthalt in Georgien, bedingt durch die Umstände, welche der Motorschaden in der Türkei mit sich gebracht und unsere „Georgien-Zeit“ gefressen hat, war es uns nicht möglich uns ein paar mehr Worte Georgisch neben „Hallo“ und „Danke“ anzueignen. Sowieso gilt Georgisch als eine der schwierigsten Sprachen der Welt und wurde in der Vergangenheit als „unlernbar“ bezeichnet. Sie zählt zudem zu den ältesten Sprachen der Welt und ist mit keiner der benachbarten Sprachen (Slawisch, Armenisch, Türkisch, Iranisch) verwandt. Sie gehört zu der Kartwelischen Sprachgruppe, welche ausschliesslich im Kaukasus zu finden waren. Handelsreisende bezeichneten das Massiv Anfangs des Mittelalters als „Berg der Sprachen“. Damit die Römer ihre Geschäfte in der Region abwickeln konnten, mussten sie rund 100 Übersetzer bemühen, so schrieb es der Historiker Plinius. Die meisten Sprachen des Kauksus sind mittlerweile verschwunden und nur Megrelisch-Lasisch, Swanisch und Georgisch sind geblieben. Alle drei Sprachen werden in Georgien gesprochen. Auch hier ist es bemerkenswert, dass sich die drei Sprachen trotz der wiederholten Fremdherrschaft und dem Einfluss der Araber und Osmanen erhalten konnten.
Auch die wunderschöne georgische Schrift ist einzigartig, zählt zu den ältesten der Welt und gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe. Sie gleicht viel eher den Schriften Südost-Asiens als der lateinischen, kyrillischen, arabischen oder griechischen Schrift.
Das Alphabet besteht aus 33 Buchstaben, wobei unser Laut „F“ nur in der Form „ph“ existiert und ausschliesslich bei Fremdwörtern Verwendung findet. In ihrem ursprünglichen Wortschatz ist er nicht zu finden und bei der Aussprache wohl auch nicht geläufig. Unter Umständen erklärt dies, warum wir an der Geburtstagsparty zu Beginn oft mit „my friend, my friend“ angesprochen wurden und sich dies mit zunehmendem Weinpegel zu „my plant, my plant“ wandelte.
Apropos „Plant“: Georgien mag nicht reich sein und hat sicher viele politische Probleme und Turbulenzen. Und dennoch wirkte das Land bei der Durchreise irgendwie wie ein kleines Paradies. Pflanzen dürfen noch üppig bis an die Mauern der Häuser ran wachsen, ohne dass sie getrimmt, von Pflastersteinen oder Betonplatten in Schach gehalten werden, die Landwirtschaft wirkt „gesund“ - nicht auf Quantität und Perfektion getrimmt - das „Rüäbli“ darf noch krumm sein und neben dem Salat und der Paprika wachsen. Und was uns besonders gefallen hat war, dass kaum ein Tier eingesperrt, angebunden oder gefesselt war. Alle Tiere - Kühe, Esel, Pferde, Hühner und Schweine - sprangen frei umher. Hier gilt: nicht das Tier wird umzäunt, sondern die Bereiche, die das Tier nicht betreten soll. Hin und wieder hat man halt mal ein neugieriges Pferd im Flur stehen, aber sonst bringt dieses Prinzip auch einige Vorteile mit sich: so eine Kuh mitten auf der Strasse wirkt definitiv verkehrsberuhigend, die Strassenränder müssen nicht mit dem Trimmer gestutzt werden, sie werden sauber abgegrast und behalten dennoch ihren natürlichen Charme durch Steine Büsche und Blumen, welche die Tiere verschmähen. Und zu guter Letzt ist diese Art der Tierhaltung wohl ausschlaggebend für den ausgesprochen guten Ruf georgischer Fleischerzeugnisse.
So kurz unsere Zeit in Georgien auch war, bleibt sie dennoch als Sammlung intensiver Eindrücke in unserer Erinnerung haften. Wir lernten die Georgier und Georgierinnen als ein in ihrer Identität tief verwurzeltes, äusserst gastfreudliches Volk kennen, das stolz auf seine Schrift, die Sprache, seine vielen Traditonen und Kulturgüter ist. Wir haben nur an der Oberfläche gekratzt und sind uns sicher, bei einem weiteren Besuch mit etwas mehr Zeit im Gepäck noch viel tiefer in das Land und seine Geschichte eintauchen zu können. Wir kommen auf unserer Rückreise noch einmal vorbei und für Georgien ist definitiv noch einmal Zeit reserviert.
Ein georgisches Sprichwort:
„რასაც ინახავ, იკარგება, რასაც გასცემ, მოიპოვებ“
„rasats inakhav, ik’argeba, rasats gastsem, moip’oveb“
„Was du behältst ist verloren, was du weiter gibst ist gewonnen.“
Bedeutung: Was du weiter gibst gewinnt an Wert, weil es von Grosszügigkeit und Hilfsbereitschaft zeugt, was als wertvoller erachtet wird, als materieller Besitz.



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