Türkei
- Dömi
- 14. Sept.
- 7 Min. Lesezeit

Über Lebensweisen, Doppelbuchstaben und inoffizielle Verkehrsregeln… –
Zu Beginn unserer Reise haben wir uns nur ganz am Rande mit der Türkei auseinandergesetzt. Wir wussten, dass sie dann irgendwann kommen wird und plötzlich war sie da. Die Türkei ist ein faszinierendes Reiseziel, das Europa und Asien, Moderne und Antike, Berge und Meeresküsten auf überraschende Weise vereint.
Zwischen den belebten Basaren Istanbuls, den surrealen Tuffsteinlandschaften Kappadokiens und den endlosen Stränden der Ägäis bietet das Land eine unglaubliche kulturelle und landschaftliche Vielfalt.
Von Griechenland hatten wir ein zu einseitiges Bild im Kopf. Dieses Bild wurde durch unsere Reise mit ganz unbekannten Facetten ausgeschmückt. In die Türkei sind wir mit leerem Rahmen gereist und mit einem Kunstwerk aus landschaftlicher Schönheit, kulturellem Reichtum, kulinarischer Vielfalt und menschlicher Offenheit beschenkt worden. Auch in diesem Bericht soll es nicht um unsere Reiseroute und die unzähligen Sehenswürdigkeiten gehen, sondern um die kleinen Geschichten und Gedanken dazwischen.
Es hat sich auf unserer Reise in den Süden bereits abgezeichnet und doch wurde es uns erst in der Türkei so richtig bewusst – der immer grösser werdende Unterschied in den Lebensformen. Wir wollen nicht sagen Arm und Reich, sondern eher modern und traditionell. Das Moderne der Städte auf der einen Seite und das einfache, ländlich geprägte Leben auf der anderen Seite. Dieses Spannungsfeld wird uns auf unserer weiteren Reise immer begleiten.
Da war Melisa und ihre Familie. Sie leben in Antalya in einer grossen Eigentumswohnung. Liberal, modern, westlich orientiert, Religion als kleinen Teil ihres Lebens sehend und mit einer regierungskritischen Einstellung.
Die andere Seite, Musa der Hirte.
Er lebt über den Winter mit seiner Familie in einer einfachen Zeltbehausung am Meer.
Den Sommer verbringt er in den kühlen Regionen des Taurus Gebirges.
Konservativ, traditionell, streng gläubig und pro Regierung.
So unterschiedlich und doch Teil des gleichen Landes und im Herzen einfach gute Menschen.
Durch ihre Gastfreundschaft haben wir, neben einem Einblick in die vielschichtige Kultur des Landes, auch die Möglichkeit bekommen, mit beiden über die gesellschaftlichen und politischen Umstände in der Türkei zu sprechen.
Es war äusserst lehrreich die Bewertungskriterien, Probleme, Ängste und Beweggründe der beiden Seiten zu erfahren.
Dabei auch zu merken, dass wir zu Hause das Weltgeschehen oft basierend auf oberflächlichen Informationen und anhand unserer Wertvorstellungen bewerten.
Und darum oft auch nicht in der eigentlich nötigen Tiefe erfassen können.
Noch was zu Melisa. Sie spricht ihren Namen mit Doppel S aus, so wie wir den Namen kennen und so wie ihre Eltern das auch wollten. Der Name wurde aber von den Behörden abgelehnt, da anscheinend Doppelbuchstaben in Vornamen in der Türkei verboten sind.
Eine weitere Tatsache, die uns niemand erklären konnte, ist das 82er-Tempolimit in manchen Städten. Da gibt es Schilder mit 100, 90, 60 und dann eben noch diese mit 82.
Umrechnungsfehler, Toleranzgrenze oder Glückszahl bedingt? Irgendwie wissen auch die Türken nicht warum.
Wenn wir gerade beim Strassenverkehr sind, hier mal eine kleine Einsicht was wir dort so erleben. Klar gab es auch in den vorherigen Ländern bereits Regeln und Verhaltensweisen, welche unsere Adaptionsfähigkeit auf die Probe gestellt haben. Mit der Türkei befanden wir uns aber plötzlich auf Level 2.
Vergiss alles, was du über Verkehrsregeln zu wissen glaubst, denn hier gilt das Prinzip der kreativen Fahrkunst. Blinken ist mehr eine optionale Empfehlung als ein festes Gesetz – und Geschwindigkeitsbegrenzungen? Nun ja, eher Richtlinien.
Ausserdem wird in der Türkei einer ganz eigenen Logik gefolgt, die für uns anfänglich chaotisch wirkte. Doch hinter dem vermeintlichen Chaos steckt eine Art von organisierter Unordnung. Wie geht man am besten mit dem Ganzen um? Das Fahren in der Türkei erfordert eine Mischung aus Aufmerksamkeit, Flexibilität und Gelassenheit. Man darf sich nicht auf Ampeln und Verkehrsschilder verlassen, sondern muss einfach gut darauf achten was gerade auf der Strasse passiert. Auch sind die Signale der anderen Fahrer wichtig.
Die Kommunikation erfolgt nicht nur über Blinker, sondern auch über Hupen, Handzeichen und Zurufe. Das bedeutet nicht, dass es keine Verkehrsregeln gibt, aber die Auslegung kann durchaus variieren.
Wenn man sich dem türkischen Verkehr anpasst und die Kunst des „fliessenden Fahrens“ beherrschst, stellt man fest, dass dieses Chaos ein erstaunlich effizientes System hat. Respektiere die anderen Fahrer, sei aufmerksam und zeige vor allem deine Absichten deutlich. Man muss sich durchsetzen und zwar ohne zu zögern. Im Gegensatz zu unserer Fahrweise ist drängeln, erzwingen und ausbremsen völlig normal. Der andere wird auch nicht böse sein. Du warst einfach schneller oder mutiger. Auch das Thema Hupen ist in der Türkei nicht so emotional aufgeladen wie bei uns. Meist ist das Hupen eine Geste um auf sich aufmerksam zu machen. Achtung! Ich werde dich überholen! Oder Achtung! Ich bin auch noch da!
Wenn man sich also anpasst und sich von erlernten Verhaltensmustern verabschiedet, merkt man schnell, dass sich auch das scheinbare Chaos nach einem gewissen Muster richtet, das für eine reibungslose Fortbewegung sorgt.
Bleib wachsam, behalte einen kühlen Kopf und fahre vorausschauend.
Zum Thema Vorausschauend fahren:
Die meisten Strassen in der Türkei sind zweispurig und richtungsgetrennt. Dazu wird meistens etwa 80 km/h gefahren.
Gehe aber nie davon aus, dass beide Spuren immer zum Fahren gedacht sind. Für den Richtungswechsel gibt es oft schlecht signalisierte U-Turn-Lücken. Will man also Wenden nimmt man die Überholspur, bremst ab und wendet.
In den Städten und Dörfern ändert sich an Strassenführung und Geschwindigkeit nichts. Was sich ändert ist die Tatsache, dass die rechte Spur auch zum Parkieren verwendet wird. Vorausschauend fahren 2.0 Ein Fahrzeug überholt dich, fährt vor dich hin und bleibt stehen.
Nächstes Thema Kreisverkehr. Hier stoppen die sich im KV befindlichen Fahrzeuge. Funktionieren die Kreisverkehre in der Türkei also umgekehrt? Antwort: Nein! Sie funktionieren gar nicht. Die Autos bremsen nicht, weil sie müssen, sondern weil sie den anderen nicht trauen, da das Bewusstsein für die Verwendung eines Kreisverkehrs in der Türkei recht gering ist. Uns hat ein Türke gesagt, dass der Türke die richtige Verwendung eines KV nicht in den Genen habe. Darum wurden KV teilweise mit Ampeln nachgerüstet. Hat man also auf Nord-Süd Grün, kann man rechts abbiegen oder geradeaus fahren. Will man aber die dritte Ausfahrt nehmen gibt es dort im KV nochmals eine Ampel. Bevor West-Ost dann Grün hat, gibt es eine kurze Grünphase, um die Fahrzeuge welche ziemlich unkoordiniert im KV stehen durchzulassen. Das Problem, wenn zu viele Fahrzeuge die dritte Ausfahrt nehmen sind sie den geradeausfahrenden im Weg. Die Grünphase nach links ist dann zu kurz um den KV vor der Grünphase der Gegenrichtung, komplett zu leeren. Das Chaos beginnt.
Ach ja! Auf der Sperrfläche vor dem Kreisverkehr darf man auch Parken.
Um das Einhalten der Verkehrsregeln zu kontrollieren, werden in der Türkei oft Papppolizisten eingesetzt. Da stehen sie dann am Strassenrand, die lebensgrossen Polizisten mit LED- Leuchtstäben oder die Polizeifahrzeuge mit blinkendem Licht auf dem Dach. Und zugegeben, wir haben uns bei der ersten Sichtung eines solchen Kartonfahrzeuges auch panisch versucht anzuschnallen.
Ein paar weitere Dinge die uns in den 2.5 Monaten Türkei aufgefallen sind:
Die Türken sind ein Campingvolk. Da es in der Türkei eine lebendige Picknick-Kultur gibt, ist auch der Schritt zum Camping nicht weit. Man sieht viele Camper mit türkischer Zulassung in Vorgärten und öffentlichen Parkplätzen stehen.
Den Türken selbst ist es aber, im Gegensatz zu ausländischen Touristen, verboten wild zu Campen. Sie dürfen ihre Camper nur auf ausgewiesenen Campingplätzen parken. Grund dafür war die massive Zunahme an Campingfahrzeugen in der Covid-Zeit. Da die Einheimischen die ganzen Plätze vermüllt haben, schritt die Regierung ein und erliess ein Verbot. Da die Touristen den Umgang mit dem Müll besser im Griff haben, werden sie vom Verbot ausgenommen.
In der türkischen Sprachen fallen immer wieder Wörter auf die man kennt.
Es sind Lehnwörter aus dem Französischen. Rund 5000 dieser Wörter gibt es, was 5% des türkischen Wortschatzes ausmacht. Die Wörter sind aber nicht französisch geschrieben, sondern so geschrieben, dass sie der französischen Aussprache entsprechen. Wie es zu diesen Gallizismen gekommen ist? Verkürzt gesprochen so: Als die Türken 1697 erfolglos Wien belagerten, kam ihr Sultan zu dem Schluss, dass nicht nur die osmanische Armee, sondern das ganze Reich reformiert werden müsse. Er entsandte Studenten ins wissenschaftliche Zentrum Europas: Paris. Als die jungen Männer heimkehrten, brachten sie neben vielen neuen Ideen und Technologien auch einen ganzen Haufen französischer Wörter mit, die in ihren Ohren nach Moderne und weiter Welt klangen. Selbst die Stadt Wien, vor deren Toren alles begann, bezeichneten die Türken fortan mit dem französisch geprägten Namen „Viyana“.
Unter gebildeten Menschen im Osmanischen Reich wurde danach Französisch als eine Art internationale Sprache verwendet, was die Übernahme französischer Wörter in den Alltag und die Verwaltung förderte. Hier ein paar lustige Beispiele: das ş wird im Türkischen als sch ausgespochen.
chauffeur - şoför
charcuterie - şarküteri
ascenseur - asansör
coiffeur - kuaför
cousin - kuzen
maillot - mayo
saucisse - sosis
bicyclette - bisiklet
chaise-longue - şezlong
haute-parleur - hoparlör
robe de chambre- robdöşambir
usw…
Was einem auch sehr oft begegnet ist das Antlitz oder die Unterschrift von Mustafa Kemal Atatürk. Der Begründer der Republik Türkei wird im Land verehrt und auch von der Regierung als die Ikone der türkischen Nation instrumentalisiert. Atatürk steht aber auch für die Modernisierung seines Landes nach westlichem Vorbild, für gesellschaftliche Reformen (z.B. Einführung der Gleichstellung von Mann und Frau) und der Trennung von Politik und Religion. Somit werden Atatürksticker auf Autos, Atatürkflaggen an Balkonen oder Atatürktgraffitis an Wänden auch als versteckte Kritik an der jetzigen Regierung verwendet. Ein Protest, gegen den die Regierung machtlos ist, denn was kann schon falsch sein an der Verehrung des Gründungsvaters Atatürk.
Türkische Kinder wachsen mit Heidi auf. Heidi gehört in der Türkei zu den beliebtesten Kinderbüchern und wurde 2005 vom türkischen Bildungsministerium als eines von 100 grundlegenden Werken der Kinder- und Jugendliteratur bei der Erziehung des Nachwuchses in der Türkei besonders empfohlen. Als Bestandteil der privaten Bücherei des türkischen Staatsgründers Atatürk erfährt Heidi zudem besondere Beachtung.
Und was bleibt sonst noch?
Wir fühlten uns immer sicher und willkommen. Das Land war auf allen Ebenen abwechslungsreich und faszinierend. Und doch bleibt uns am Ende vor allem eines in Erinnerung:
Die Offenheit, die Gastfreundschaft und die Hilfsbereitschaft der Menschen.
Da waren:
Die Angler Osman und Elias
Kemal der Fischzüchter
Melisa und Familie
Zafer der T3- Freund
die unzähligen Mechaniker
Eren der Motorenbauer
Burhan und Yasmin
Batu und Ali die Rezeptionisten
Hirte Musa und seine Familie
Mustafa der Lkw Fahrer
Altug der Vermittler
Zusammen mit den vielen kleinen, alltäglichen Begegnungen haben diese Menschen das Erinnerungskunstwerk geschaffen, das nun unseren anfänglich leeren Rahmen ziert.
Liebe Türkei, es war schön bei dir!
Ein türkisches Sprichwort:
Cassius sohlet, aysiz Gokart Suzuki gibidir
"Gespräche ohne Tee sind wie ein Nachthimmel ohne Mond."
Bedeutung: Tee hat in der Türkei einen sehr hohen Stellenwert. Wenn man sich trifft, wird erst einmal zusammen ein Tee getrunken. Auch beim Betreten eines Geschäfts oder einer Werkstatt wird einem sofort ein Tee angeboten. Teilweise gibt es sogar in einem Betrieb eine Person, die ausschliesslich für die Verpflegung und das Kochen und Servieren des Tees verantwortlich ist. Das gemeinsame Teetrinken verbindet, schafft Gemütlichkeit und bei Geschäftstätigkeiten eine Ausgangslage für Verhandlungen auf Augenhöhe.



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