Nordmazedonien
- Jessi
- 9. Jan.
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 10. Jan.

Über Schein und Sein, die Wirkung eines Schweizer Nummernschildes und Gesetzte, die niemanden interessieren –
Wie wäre es mit einem Urlaub in Nordmazedonien? Wer hat sich bei der Ferienplanung diese Frage schon einmal gestellt? Wir uns definitiv nicht! Wir hatten uns sehr auf Bosnia i Herzegovina und Montenegro gefreut, waren gespannt auf den Kosovo und hatten grosse Erwartungen an Albanien. Nordmazedonien nehmen wir auf unserer Reise noch so mit, da es ja mehr oder weniger auf dem Weg nach Griechenland liegt, so dachten wir. Auf der touristischen Landkarte scheint Nordmazedonien ein blinder Fleck zu sein. Kaum jemand nimmt auf dem Weg in den Süden den Abzweiger in den Osten und besucht das Land. Bei einer kurzen Recherche im Netz bin ich auf ca. acht Reiseführer für Nordmazedonien gestossen. Für Albanien (das vor noch nicht allzu langer Zeit als Geheimtipp gehandelt wurde) sind auf der gleichen Internetseite 34 Reiseführer zu finden.
Also sind wir zwar neugierig, aber ohne hohe Erwartungen in das Land eingereist.
Und wow – was waren wir doch positiv überrascht! Ein wunderschönes Fleckchen Erde hat sich vor uns aufgetan!
Wie in allen andern Balkanländern fliessen auch hier kristallklare Flüsse und eine wunderschöne Berglandschaft sowie drei Nationalparks laden zum Wandern und hübsche Dörfer zum Verweilen ein. Teilweise waren wir an Orten, wo wir uns erinnern mussten, dass wir uns noch auf dem europäischen Kontinent befinden und nicht auf einer Steppe irgendwo in Zentralasien.
Auch den einen oder anderen Rekord kann das Land für sich verbuchen. So hat die Peshna-Höhle mit sagenhaften 40 Metern Höhe den grössten Eingang aller Höhlen auf dem Balkan und mit Kuçevo hält Nordmazedonien den Rekord für die höchst gelegene Stadt auf dem Balkan. Einen weiteren Rekord erzielt der Ohridsee, welcher als einer der ältesten Seen weltweit und in Europa als der älteste noch existierende See gilt. Diesen Rekord teilt sich Nordmazedonien mit Albanien, da ein Teil des Sees auf albanischem Boden liegt.
Mit 25’713 Quadratkilometern misst Nordmazedonien etwas mehr als die Hälfte der Schweiz, hat aber nur 1,8 Millionen Einwohner*innen. Das heisst jede Menge Platz für unberührte Natur und sagenhafte Stellplätzchen zum Übernachten mitten im Nirgendwo!
Was der Bevölkerung an Quantität fehlt, macht sie mit der Qualität ihrer Herzlichkeit und Gastfreundschaft wieder wett! Die Mazedonier*innen wirken Besuchern gegenüber sehr aufgeschlossen, dazu kommt eine grossen Freude darüber, dass man ihr Land besucht. Das Schweizer Nummernschild scheint noch zusätzlich ein Türöffner zu sein. Jede*r hat noch Verwandte oder Bekannte in der Schweiz und kann noch mit ein paar Brocken Deutsch auftrumpfen. Vor einem Supermarkt werden wir von einem jungen Mann in gebrochenem Deutsch angesprochen. „Ihr von St. Gallen! Ich auch, aus Osten in St. Gallen. Ich besuche Familie hier!“ Allerdings stellt der junge Mann dem Staat Nordmazedonien mit der Begründung „Alles korrupt hier!“ kein gutes Zeugnis aus und er sei froh, wenn er wieder in der Schweiz sei. Nach dem Einkauf im Supermarkt werden wir erneut auf Schweizerdeutsch von einer jungen Mutter angesprochen und erfahren, dass sie und ihre Familie lange in der Schweiz gelebt haben und kürzlich zurück nach Nordmazedonien gezogen seien. „Hier ist das Leben viel einfacher und entspannter". Den Eindruck, dass die Mazedonier*innen entspannt durchs Leben gehen, haben wir auch. Alle Handlungen scheinen etwas verlangsamt, der Alltag gespickt mit einem Schwätzchen da, einem Käffchen dort – und sogar beim Autofahren wirken sie deutlich relaxter, als ihre nördlichen Nachbarn.
Von Korruption jedoch berichten auch Bobby und Terza. Die beiden lernen wir vor der geschlossenen Schranke des Jasen Nationalparks kennen. Die Strasse, welche durch den Nationalpark führt, ist so schmal, dass Fahrzeuge nicht kreuzen können. Daher werden abwechselnd die Autos von je einer Seite durchgelassen. Dies, sowie die Zeiten, an denen passiert werden kann, steht so auch gross gedruckt auf einer Tafel vor der Zufahrtsstrasse. Da wir aber im Entziffern der kyrillischen Schrift (noch) nicht wirklich geübt sind, sagte uns dies nichts und wir standen darum viel zu früh vor der geschlossenen Schranke. Auch Bobby und Terza warteten darauf, dass die Schranke sich öffnet. Das Ehepaar wohnt in Skopje und betreibt dort eine Dachdeckerfirma. Doch ihr Herz schlägt für die Region um den Kozjak-See, welche an den Nationalpark grenzt. Dort haben sie ein Ferienhaus direkt am Stausee – in das sie uns auch prompt auf einen Kaffee einladen! Eine kurze Wegbeschreibung auf Google-Maps, dann öffnen sich die Schranken des Nationalparks und los gehts auf schmaler, gewundener Strasse steilen Felswänden entlang hinunter ins Tal. Nur selten zweigt einmal ein noch schmaleres Schottersträsschen ins Unterholz ab. Kaum vorstellbar, dass es in dieser zerklüfteten unwegsamen Landschaft noch geheime unterirdische Bunkeranlagen von Tito geben soll. Dieses Gerücht – wenn es denn eins ist – hält sich hartnäckig in der mazedonischen Bevölkerung.
Das Ferienhaus mit dem grünen Blechdach auf einem vorgelagerten Felsen finden wir schnell. Bobby und Terza warten bereits und zeigen uns stolz ihren grosszügigen Garten mit verschiedenen Terrassen und Aussichtspunkten auf den See. Auch eine kleine orthodoxe Kirche aus Plastik hat ihren Platz unter einem Pistazienbusch gefunden. Bobby und Terza bilden in diesem Punkt keine Ausnahme. Solche Mini-Kirchen findet man in vielen Gärten. Eine ein klein wenig grössere Kirche aus Stein steht am Ortseingang. Alle, die hier wohnen hätten zusammen gelegt und die Kirche gebaut, erklärt Bobby. Wir werden mit türkischem Kaffee, Cola und einem kalten Plättchen mit Köstlichkeiten aus der Region verköstigt. Die beiden erzählen, dass sie Verwandte in Schaffhausen hätten und schon mehrmals zu Besuch in der Schweiz waren. Beim nächsten Mal möchte Terza unbedingt die Stiftsbibliothek in St. Gallen besichtigen. Die Schweiz sei wunderbar! Da wäre alles viel entspannter. In Nordmazedonien bestellten die Menschen heute und wollten es gestern geliefert bekommen. Es sei hier so hektisch. Lustig, vor kurzem sagte uns die junge Mutter vor dem Supermarkt genau das Gegenteil. Auf die Frage, was er von der Regierung hält, verzieht Bobby das Gesicht. Er hält sich bedeckt, es wird aber trotzdem deutlich, dass er nicht zufrieden ist. Die Korruption sei ein grosses Problem und er bringt gleich ein Beispiel. Vor zwei Jahren habe er das Firmengebäude sowie das dazugehörige Grundstück in Skopje gekauft. Bis heute warte er jedoch auf die Papiere, die ihn als rechtmässigen Besitzer ausweisen. Immer müsse er noch mehr zahlen, passieren würde aber nichts. Zum Abschied schenken sie uns noch ein Fläschchen Rakje und raten uns, diesen aber nicht vor dem Autofahren zu trinken - der sei ganz schön stark! Beschwingt von der schönen Begegnung ziehen weiter.
Eine Begegnung der etwas „andern Art” mit Einheimischen hatten wir an einem Abend mit drei Polizisten. Es war bereits dunkel und wir waren gerade beim Kochen, als sie mit Taschenlampen bewaffnet vor unserem Bus aufkreuzten und die Ausweise verlangten. Sie meinten nach der Überprüfung dieser, dass wir nicht registriert wären und dies am nächsten Tag umgehend auf dem Polizeiposten des Ortes nachholen sollten. Auch nannten sie eine hohe Summe, die getätigt werden müsste. Wir waren etwas verwirrt und verunsichert, da wir davon nichts wussten. Plötzlich machten sie jedoch eine Kehrtwende, als der ältere Polizist auf Mazedonisch etwas einwarf. Sie gaben uns die Pässe zurück, meinten es wäre alles gut und wir bräuchten nichts weiter zu tun… Am nächsten Tag auf einem Campingplatz erzählten wir dem Besitzer von diesem Ereignis. Er lachte und sagte: „Nordmazedonien hat viele Gesetze, aber niemand hält sich daran. Auch nicht die Polizei.” Eigentlich müssten sich ausländische Besucher innerhalb von 24 Stunden auf der Polizeistation ihres Aufenthaltsortes registrieren, erklärt er uns und mutmasste, dass es sich bei dem Polizeieinsatz wohl lediglich um eine Schulung von jungen Nachwuchspolizisten gehandelt habe und wir wahrscheinlich nur als Übungsobjekte dienten. “Touristen haben in der Regel von Seiten der Polizei nichts zu befürchten”, meint er noch. Und tatsächlich werden wir bei Polizeikontrollen - von denen es so einige gab - stets freundlich und mit Daumen-Hoch angestrahlt .
Ein Besuch, der als Kitsch-Stadt verrufenen Hauptstadt Skopje, wollten wir uns nicht entgehen lassen. Obwohl nicht sehr gross, wirkt Skopje doch sehr städtisch. Viele dunkle Fassaden, schmutzig graue Mauern, gespickt mit bunten Klecksen durch Grafitis und üppig dekorierten Schaufenstern erwarten uns, als wir die Tiefgarage eines Einkaufzentrums verlassen. Auch so manches düster kommunistische Bauwerk prägt das Stadtbild. Dann tut sich plötzlich das berühmt berüchtigte Zentrum vor uns auf und man hat als erstes das Bedürfnis nach der Sonnenbrille zu kramen. Man wird schlichtweg geblendet! Im wortwörtlichen wie auch übertragenen Sinne. Der Platz selber, die umliegenden im barocken Stil gehaltenen Gebäude, die komplett überdimensionierten Säulen, auf denen die unzähligen Statuen stehen und die Brunnen mit ihren gigantischen Wasserspeiern sind in strahlendem Weiss gehalten. In der Mitte des Platzes trohnt auf einer Säule eine Statue Alexanders des Grossen. Schwert-fuchtelnd auf einem sich aufbäumenden Pferd. Die Statue ist nur mit genüged Abstand wirklich zu sehen, denn die Säule ist so hoch und dermassen überdimensioniert, dass von der Statue selber (obwohl auch gigantisch) kaum mehr etwas zu sehen ist, wenn man davor steht. Dem Platz gegenüber liegend steht eine nicht minder grosse Statue Philip II, welcher dem albanisch geprägten Stadtteil den Rücken kehrt und in Richtung seines Sohnes Alexander dem Grossen blickt. “Fake - alles nur Styropor!” lautete Bobbys Kommentar, als wir auf das Zentrum Skopjes zu sprechen kamen. In ihm scheint bei dem Thema einiges vorzugehen, aber seine Englischkenntnise reichen wohl nicht aus, um vertiefter darüber zu diskutieren. Dieses Riesenprojekt “Skopje 2014” ist nicht umsonst sehr umstritten, da es aus mehreren Gründen fragwürdig ist. Iniziert wurde es 2010 von der damaligen Regierung und wurde mit 80 Mio. Euro budgetiert, hat aber laut späteren Schätzungen den Staat rund 700 Mio. gekostet - und dies bei einem Land das zu den ärmsten Europas zählt. Mit den Statuen historischer Persönlichkeiten, wie besp. Alexander dem Grosse und Philipp II wurde versucht, dem Land eine Identität aufzudrücken, indem zeitlich weit, weit in der Geschichte zurück gegriffen wurde - eine Geschichte, die sich Nordmazedonien mit angrenzenden Ländern teilt. Sowohl Geburtsort wie auch Ursprung des damaligen Königreichs Macedonia von Alexander dem Grossen lagen auf dem Boden des heutigen Griechenland. Mazedonien ist heute eine geografische Region, die Teile mehrer Länder umfasst. Die Griechen nahmen Anstoss, als Nordmazedonien 1991 nach der Unabhängigkeitserklärung von Jugoslawien sich “Republik Mazedonien” nannte, da auch der Norden Griechenlands Mazedonien heisst. Beim Prespa-Abkommen 2018 einigten sich die beiden Staaten auf den Namen Nordmazedonien. (Als Adjektiv sowie bei der Bezeichnung einer Person aus Nordmazedonien darf jedoch nach wie vor “mazedonisch und Mazedonier*in verwendet werden). Das Projekt Skopje 2014 befeuerte den Konflikt mit Griechenland zusätzlich. Nicht zuletzt ist das Projekt auch fragwürdig, weil es ethnische Minderheiten Nordmazedoniens ausschliesst - ihnen gar den Rücken kehrt, wie die Statue Philip II es tut. Denn nach dem Erdbeben, das 1963 grosse Teile Skopjes zerstörte, wurde bei der Planung des Wiederaufbaus berücksichtigt, dass alle ethnischen Gruppierungen die selben öffentlichen Plätze und Infrastrukturen teilen sollten. Mit der Umgestaltung 2014 wurde diese ursprüngliche Idee zunichte gemacht. Tatsächlich wird ein Seitenhieb der damaligen nationalsozialistischen Regierung gegen die albanische Minderheit, die immerhin einen Drittel der Gesamtbevölkerung ausmacht, deutlich. Sie liess ein Denkmal “Die Verteidiger Nordmazedoniens” für die mazedonischen Streitkräfte errichten, welche 2001 beim Aufstand der albanischen Bevölkerung gegen diese vorgegangen waren.
Die wuselige, muslimisch geprägte Altstatt hat uns sehr gut gefallen. Viele hübsche Kaffees, Restaurants und kleine Handwerksbuden prägen das Bild und nur ein paar wenige Souvenierstände zeugen davon, dass der Tourismus allmählich auch Nordmazedonien für sich entdeckt.
Was uns noch aufgefallen ist:
Wo in andern Balkanländern Neubauten oftmals eine Kinderzeichnung, das weisse Haus, ein Schiff oder ein Flugzeug zur Vorlage zu haben schienen, wirken Neubauten in Nordmazedonien durchdachter und stilvoller (das Stadtzentrum Skopjes ist hierbei auszuklammern…).
Auch in Nordmazedonien sind Strassenränder mit Abfall und Sperrmüll dekoriert. Und dennoch scheint sich diesbezüglich bereits einiges getan zu haben. Viele Tafeln an Waldwegen, Picknickstellen, Parkplätzen etc. weisen darauf hin, keinen Abfall zu hinterlassen, sondern diesen in den bereitgestellten Abfalleimern zu entsorgen. In grösseren Städten sind uns sogar unterschiedlich farbige Tonnen zur Mülltrennung in den Vorgärten aufgefallen.
Oft sehen wir Autos ohne Nummernschild vorbei fahren.
Fast an jedem Haus sind Überwachungskameras angebracht.
Auf den Märkten findet man sehr schönes Gemüse. Laut Bobby ist Nordmazedonien gut in Gemüse, während die Serben Fleisch können.
Tabak-Anbau: Im Flachland rund um Prilep wird der weltberühmte Prilep-Tabak angebaut. Im Herbst werden die Tabakblätter auf lange Schnüre zum Trocknen aufgefädelt. Jede freie Fläche in den Dörfern rund um Prilep wird genutzt um diese Schnüre anzubringen. Hausfassaden, Geländer, Leitern etc. erstrahlen in einem Blätterkleid mit Schattierungen von knallgrün bis rotbraun.
Mazedonisches Sprichwort:
Подобро еден ден орел, отколку цел живот кокошка (Podobro eden den orel, otkolku cel život kokoška) Besser einen Tag ein Adler, als ein Leben lang ein Huhn.
Bedeutung: Mut und Tapferkeit im Gegensatz zu einem Leben in Feigheit und Mittelmässigkeit hat mehr Wert.
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